Das Jesulein wird gebadet
Als ich ein Kind war, gab es ein Wort, das mich vom Aufwachen bis zum Einschlafen begleitete: Warum? Dieses Wort brachte mir jede Menge Schwierigkeiten. Erstens konnte ich es nicht richtig aussprechen. Ich konnte beim besten Willen kein R sagen, so verbissen ich auch übte und mir Zunge und Gaumen verrenkte. Aus Warum wurde immer wieder Walum. Natürlich nahm die Frage »Aba walum?« kein Mensch ernst, alle lächelten, wenn ich sie stellte, und sie lächelten auf eine Art, die mich wütend machte. Dazu kam, dass ich natürlich – wie alle klugen Kinder – meist genau die Fragen stellte, auf die die großen Leute selbst keine Antwort wussten, oder aber die Fragen, die ihnen peinlich waren. Dann wurden sie ungeduldig, erklärten: »Das verstehst du noch nicht, dafür bist du noch zu klein«, oder »Tut mir Leid, ich hab jetzt keine Zeit«. Manchmal sagten sie sogar: »Räum dein Zimmer auf, wie es da wieder aussieht.« Ich lernte also –wie alle klugen Kinder –, dass man auf die wichtigsten Fragen keine Antwort bekommt und selbst suchen muss. Inzwischen bin ich alt geworden und weiß, dass hinter jeder Frage noch eine Frage steht, ein riesiger Berg nach dem anderen, und die Antworten sind meist dünn gesät und nicht einmal so groß wie die Blumen auf einer Almwiese.
Ich blätterte in einem Bilderbuch, da sprang mich wieder einmal eine dieser Fragen an: Wie konnte das Christkind ein blond gelocktes Mädchen sein, wenn doch das Jesulein ein Knabe war, das sah man auf dem großen Bild in der Kirche ganz deutlich, und der erwachsene Jesus ein Mann, wenn auch ein Mann mit langen Locken und langem Kleid?
»Ist das Christkind die Schwester vom Jesukind?«, fragte ich meine Großmutter, dann die Hausmeisterin und einige andere wichtige Personen, aber ich bekam natürlich keine Antwort, nur dieses Lächeln. »Auf Ideen kommt dieses Kind«, hörte ich meine Großmutter zu meinem Vater sagen. Ihn fragte ich nicht. Wenn die anderen schon schmunzelten, würde er mich bestimmt auslachen. Es war schrecklich für mich, von ihm ausgelacht zu werden.
Wir hatten eine Krippe mit einem Jesulein aus Wachs, ein Geschenk der Schwestern aus dem Josefsheim, wo Papa Hausarzt war. Das Jesulein war staubig geworden im Laufe des Jahres, ganz grau zwischen den Fingerchen und Zehen. Ich beschloss es zu baden.
Behutsam hob ich es aus dem Stroh, legte es auf mein Bett, während ich die Krippe ordentlich abstaubte und alle Fugen und Ecken säuberte. Ich nahm jeden Strohhalm einzeln in die Hand und pustete ihn ab, bevor ich ihn zurück in die Krippe legte. Ich wusch die Windel, die auf dem Stroh gelegen war, mit Nagelbürste und Seife und drückte sie faltenfrei an den Badewannenrand. Großmutter machte das manchmal mit Taschentüchern, dann sahen sie nach dem Trocknen wie frisch gebügelt aus.
Ich füllte Wasser ins Waschbecken, prüfte mit der Hand, ob es schön warm, aber nicht zu heiß war, dann holte ich das Jesulein. Seine Windel ließ sich nicht abmachen, die war am Rücken festgeklebt. Mit der Linken hielt ich den Lockenkopf über Wasser, mit der Rechten begann ich sehr vorsichtig, die Händchen einzuseifen, dann die Füße. Durfte ich den wächsernen Popo waschen oder wäre das eine Gotteslästerung? Das Dienstmädchen unserer Nachbarn hatte die grässlichsten Geschichten über die Folgen einer Gotteslästerung erzählt.
Während ich noch überlegte, spürte ich plötzlich eine Bewegung in meiner linken Hand, als hätte ein Finger sachte an meine Handfläche geklopft. Ich schrie auf, aber da war niemand, der mich gehört hätte. Mein Herz klopfte wild, meine Knie zitterten.
»Müde bin ich, geh zur Ruh«, flüsterte ich. Ein anderes Gebet fiel mir nicht ein, und wie es weiterging, wusste ich in dem Moment auch nicht. »Müde bin ich, geh zur Ruh…«
Da war es wieder. Ganz deutlich. Fast hätte ich das Jesulein fallen lassen. Ich hob es aus dem Wasser, legte es auf ein Tuch. Mir war schlecht, das Badezimmer drehte sich wild.
»Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe meine Äuglein zu, Vater, lass die Augen dein über meinem Bette sein …« Das Gebet war wieder da, ich konnte ausatmen. Als ich die Augen öffnete, stand die Badewanne wieder still, wie es sich gehörte, auch das Waschbecken und das Kästchen.
Beim dritten Versuch gelang es mir, das Jesulein auf dem weißen Handtuch anzusehen. Wächsern wie zuvor lag es da, das linke Bein angewinkelt, das rechte ausgestreckt, als wollte es gleich strampeln. Aber da, wo früher fünf zarte Zehen gewesen waren, war jetzt ein unförmiges Etwas.
Unser Jesulein hatte einen Klumpfuß.
Es dauerte lange, bis mir klar wurde, dass das Wachs im warmen Wasser weich geworden war.
»Das wollte ich nicht, wirklich nicht, ich hab dich doch nur schön machen wollen für Weihnachten«, sagte ich. »Sei nicht böse. Bitte sei nicht böse.«
Das Jesulein lächelte so freundlich wie zuvor.
Jetzt überfiel mich die Angst davor, was die Eltern sagen würden. Ich wagte nicht, das Jesulein abzutrocknen, dabei hätte ja noch etwas passieren können. Also hauchte ich es immer wieder an, blies die Tropfen ab. Die Windel am Badewannenrand war inzwischen getrocknet und sah wirklich wie frisch gebügelt aus.
Ich breitete die Windel auf das Stroh, legte das Jesulein darauf. »Schau, wie schön die Krippe jetzt ist«, sagte ich.
Der Klumpfuß aber war wie eine Anklage. Jeder würde ihn sehen.
Ich streute ein paar Strohhalme darüber, obwohl ich keine Hoffnung hatte, dass meine Missetat unbemerkt bleiben könnte. Dann trug ich die Krippe zurück ins Esszimmer und stellte sie auf die Anrichte.
Das Jesulein lächelte noch immer. Als ich mich wegdrehte, sah ich es aus dem Augenwinkel blinzeln. Ich habe es wirklich gesehen und der Beweis dafür ist, dass der Klumpfuß niemandem auffiel. Nicht einmal meiner Großmutter, die doch sonst alles bemerkte.
Renate Welsh
Brita Groiß; Gudrun Likar
Weihnachten ganz Wunderbar: ein literarischer Adventskalender
Wien: Ueberreuter, 2001
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