Die Riesin

Es war einmal eine junge Riesin. Sie lebte zurückgezogen am Waldrand, denn sie fürchtete, die Menschen zu erschrecken. Einmal war ihr eine Pilzsammlerin begegnet, die hatte die Riesin angestarrt und war ängstlich davongerannt.

Oft stand die junge Riesin an einem hoch gelegenen Fenster ihres Hauses und dachte daran, was ihre Mutter, eine normal große Frau, gesagt hatte:

»Ein Riese, das geht noch. Aber eine Riesin? Du wirst einsam sein im Leben. Kein Mädchen nimmt dich zur Freundin, denn deine Größe jagt Angst ein. Kein Bursche wird sich in dich verlieben. Männer wollen, dass Frauen zu ihnen aufschauen.«

Da geschah es, dass ein Förster in ihrer Nähe am Waldrand ein Blockhaus baute. Oft blickte er zu seiner Nachbarin hinüber.

Das Gesicht am Fenster, im ersten Stock gefiel ihm. An einem Morgen, ehe er in den Wald ging, winkte er zu ihr hinauf.

Die Riesin winkte scheu zurück. Sie blickte dem jungen Mann nach, bis er klein zwischen den Bäumen verschwand.

Wenn nur jemand käme, der mir gewachsen wäre, dachte sie.

Von jetzt an wechselte der junge Förster, ehe er zur Arbeit ging, mit der Nachbarin am Fenster auf ein paar Worte.

Ende Februar, als die Tage heller wurden, hörte er von einem Karnevalfest in der Stadt. Ich will fragen, ob die Nachbarin Lust hat, mitzugehen, dachte er. Am Abend, als er von seiner Arbeit im Wald nach Hause ging, traf er sie nicht am Fenster. Er klopfte an die Haustür. Niemand öffnete. Da drückte er die Klinke. Von der Schwelle aus blickte er in den Raum und erschrak.

Ausgestreckt auf einer ungeheuren Matratze am Boden lag eine schlafende Riesin. Ihr Gesicht sah jetzt noch schöner aus als am Fenster. Ein Lächeln erhellte es, vermutlich hatte sie gerade einen angenehmen Traum.

Leise, um die Riesin nicht aufzuwecken, machte der Förster die Türe zu und ging nach Hause. Was er gesehen hatte, sollte sein Geheimnis bleiben.

Am nächsten Morgen blieb der Förster unter dem Fenster stehen und rief hinauf: »In der Stadt ist ein Karnevalfest. Wollen Sie nicht hingehen, Frau Nachbarin? Vielleicht erkenne ich Sie trotz Ihrer Maske, das wäre lustig!«

»Oh!«, stammelte sie. »Karneval? Ich wüsste nicht, als was ich gehen könnte.«

»Alles ist möglich im Karneval«, lachte der Förster. »Da gibt es sicher eine Menge Kobolde, Feen, Hexen, Riesen!«

Da dachte die junge Riesin: Das ist eine gute Gelegenheit, einmal unter die Leute zu gehen. Jedermann wird annehmen, dass ich nur eine verkleidete Riesin bin. Niemand wird sich vor mir erschrecken. So ging die junge Riesin in die Stadt und mischte sich unter das Maskentreiben. Unter all den Hexen, Zigeunerinnen, Indianern und Kobolden fühlte sie sich wohl. Viele Leute, besonders Kinder, blieben stehen und blickten voll Bewunderung zu ihr auf.

Ein kleines Mädchen rief: »Riesin, du gefällst mir. Im Tiergarten möchte ich auf deiner Schulter reiten, dann kann ich endlich die Giraffe in die Augen schauen.«

Die junge Riesin schloss einen Moment die Augen und sah sich im Geist mit dem Mädchen und der Giraffe.

»Und ich«, rief ein Junge, »möchte auf deiner Schulter in den Zirkus. Gestern, in der Vorstellung, musste ich ganz hinten sitzen und habe fast nichts gesehen!«

Die Riesin schloss einen Moment die Augen und sah sich mit dem Jungen im Zirkus.

»Auch ich«, sagte ein Erwachsener, »wäre froh um dich. Auf meinem Hofdach sind ein paar Ziegel kaputt, und die Dachtraufe ist verstopft. Für dich wäre es eine Kleinigkeit, alles in Ordnung zu bringen.«

Die Riesin schloss einen Moment die Augen und sah sich, wie sie das Dach des Bauern flickte. Dass die Menschen ihre Größe brauchen konnten, machte sie froh.

Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge, sie machte einem zweiten Riesen Platz. Er kam über die Brücke auf die Riesin zu und fasste sie bei den Händen.

Der Riese und die Riesin tanzten zusammen ein Riesenmenuett. Die Leute klatschten.

Die junge Riesin tanzte gerne. Endlich konnte sie in Augen blicken, die ihr gegenüber waren, nicht weit unter ihr. Durch die Schlitze der Maske sah sie in wunderbare Augen. Wälder spiegelten sich in ihnen, Wolken, Himmelblau.

Endlich einer, der mir gewachsen ist, dachte sie. Habe ich davon nicht schon lange geträumt?

Eine verkleidete Spanierin streckte ihre Hand aus und zog den Riesen am Hosenbein. Sie wollte wissen, ob seine langen Beinen echt waren. Da begann der Riese zu schwanken, Stelzen fielen zu Boden. Jetzt sah man: Er war kein Riese, sondern ein Mann von gewöhnlicher Größe.

Die Riesin erkannte hinter der verschobenen Maske ihren Nachbarn, den Förster. Tränen rannten ihr über die Wangen.

»Und du?« fragte eines der Kinder die Riesin. »Bist du wenigstens echt?«

Die Riesin wischte mit dem Handrücken ihre Tränen weg. Zorn und Trauer machten sie mutig.

Laut rief sie: »Ihr sollt alle mein Geheimnis wissen! Ja, ich bin eine echte Riesin! Um euch nicht zu erschrecken, wohne ich allein am Waldrand.« Sie machte eine Pause. Aber niemand lief vor Schreck davon.

»Echt? Das ist ja toll!« sagte ein kleiner Junge. Er blickte sie voll Bewunderung an.

Nun trat der Förster, der sich vor Scham zur Seite gedrückt hatte, neben die Riesin. Mutig sagte er: »Nun will ich auch mein Geheimnis preisgeben. Seit einiger Zeit weiß ich, dass du eine Riesin bist. Soll das ein Grund sein, dich nicht zu mögen? Auch meine Freunde, die Bäume, sind groß. Wenn du willst, zeige ich sie dir morgen.«

Am anderen Tag spazierte der Förster und die Riesin im Wald.

Sie gingen Hand in Hand!

Eveline Hasler: Die Riesin.

München: 1996, Ellermann Verlag

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