Der Indianerkönig – der 4. Heilige König

Viele Menschen, große und kleine, kennen die Geschichte der Heiligen Drei Könige. Was aber von dem Indianerhäuptling Silbermond erzählt wird, das ist weit weniger bekannt.
Silbermond lebte am Rand eines Berglandes im weiten Amerika. Eines Nachts sah er am Himmel einen weißen Stern. Der zog einen Schweif aus Goldstaub hinter sich her. Silbermond kannte den Sternenhimmel gut, doch so etwas hatte er nie zuvor gesehen. Er rief sein Volk zusammen und sagte: »Ein neuer Stern ist aufgegangen. Ich bin sicher, es ist der Stern eines großen Königs. Ich will mich aufmachen und dem neuen König huldigen.« Er nahm viele Geschenke mit. Drei Lamas bekamen Krüge mit Wasser und Öl und Honig auf den Rücken geladen. Auch Maisbrot und Trockenfleisch trugen sie und ein Armband aus kostbarer Jade, einen Beutel mit Goldkörnern und einen bunt gewebten, warmen Umhang.Silbermond sagte: »Lebt wohl.« Sein Bruder Schneller Hirsch gab ihm noch einen Rat mit auf den Weg: »Schau nicht links, schau nicht rechts, scher dich um nichts, sonst kommst du nie ans Ziel.« Die Mutter aber nahm einen Schmuck mit einer schimmernden Perle von ihrem Hals, legte Silbermond diesen um und sagte: »Das ist mein eigener Brautschmuck. Er soll dich erinnern, dass du jedem hilfst, der deine Hilfe nötig hat.«
Nach Tagen traf Silbermond auf zwei Mädchen und eine Frau. Die litten Hunger, denn der Vater war viele Tage zuvor auf die Jagd gegangen und nicht zurückgekehrt. Da schenkte Silbermond, was er zu essen bei sich hatte, und dachte: Der, der die Sterne lenkt, der wird mich nicht umkommen lassen. Und er zog weiter. Als er ins Gebirge kam, war dort schon der Winter eingekehrt. Silbermond fand einen alten Mann. Der hatte sich vor einem Schneesturm unter eine Tanne geflüchtet und war halb erfroren. Silbermond gab ihm den warmen, bunt gewebten Umhang. Den ganzen langen Winter blieb er bei dem Alten; denn der Schnee lag so hoch, dass Silbermond nicht übers Gebirge gehen konnte. Im Frühling brach er auf. Hinter dem Gebirge lag ein herrliches Wiesenland. Jetzt werde ich schneller vorwärts kommen, dachte Silbermond.
Aber im Grase lag ein Hirtenjunge. Der hatte gegen die Wölfe gekämpft. Doch die Wölfe waren stärker gewesen als er. Sie hatten ihn verwundet und seine Lamas in alle Winde gejagt. Da pflegte Silbermond ihn gesund. Als der Herbst kam, machte er sich wieder auf und zog dem schönen Stern nach. Dem Hirtenjungen schenkte er seine Lamas, denn ein Hirte ohne Herde, das ist ein armer Mensch.
Schließlich gelangte Silbermond an die Meeresküste. Ihm fiel ein Schilfboot in die Augen. Darin lagen jedoch ein toter Mann und eine tote Frau. Drei Kinder saßen da und weinten. »Seeräuber haben unsere Eltern umgebracht«, berichtete der Junge. »Das Fischernetz und das Segel haben sie uns geraubt.«
Einen Augenblick dachte Silbermond an den Rat seines Bruders: »Schau nicht links, schau nicht rechts, scher dich nicht drum.« Aber dann taten ihm die Kinder Leid. Er begrub mit ihnen die Toten und tauschte bei anderen Fischern das kostbare Armband aus Jade gegen ein Netz und zwei Segel.
Zum Dank halfen ihm die Kinder, ein großes Schilfboot zu bauen. Doch das dauerte seine Zeit, und Silbermond konnte erst nach sieben Monaten aufs Meer hinausfahren, dorthin, wohin der weiße Stern ihn führte. Lange, lange sah er nichts als Wasser. Endlich gelangte er an eine ferne Küste. Er hörte, dass hinter der Küste eine große Wüste lag. Eine Karawane war wenige Tage zuvor losgezogen. Da gab Silbermond sein Schiff für ein Kamel und ritt los. Wochenlang zog er von Wasserstelle zu Wasserstelle. Schon war er der Karawane nahe gekommen, da gelangte er an eine Oase. Dort herrschte große Trauer. Die Männer der Karawane hatten einen jungen Mann geraubt. Den wollten sie in Ägypten als Sklaven verkaufen. Am folgenden Abend holte Silbermond die Karawane ein. Er gab all sein Gold hin und kaufte dafür den jungen Mann und ein Kamel. Darauf setzte er den Jungen und ließ ihn zu seiner Oase zurückkehren. Er selbst aber begleitete die Karawane bis nach Ägypten. Dort hörte er von einem neuen König, der im Judenland geboren worden sein sollte. Also zögerte er nicht und folgte dem Stern. Kaum aber hatte er das Judenland erreicht, da verblasste der Stern am Himmel. Überall fragte Silbermond nach dem König der Könige, doch keiner konnte ihm eine genaue Auskunft geben.
Silbermond war schon viele Jahre unterwegs, als er eines Tages in Galiläa in ein Dorf mit Namen Kana kam. Dort wurde gerade eine Hochzeit gefeiert. Silbermond hatte Hunger und bat um Brot. Der Küchenmeister wollte den alten Bettler forttreiben, aber der Bräutigam lud Silbermond ein, ins Haus zu kommen. Es war keine reiche Hochzeit. Der Wein ging aus. Ja, die Braut trug nicht einmal Brautschmuck. Silbermond sah, dass sie darüber sehr traurig war. Da nahm er den Schmuck, den seine Mutter ihm gegeben hatte, und legte ihn der Braut um den Hals.
Jetzt war er ganz und gar arm, wirklich ein Bettler. Er ging in den Garten. Die Diener kamen heraus und füllten sechs große Krüge mit frischem Wasser. Silbermond half ihnen, das Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen. Die Diener trugen die Krüge wieder ins Haus. Da trat ein Mann hinzu. Er war etwa 30 Jahre alt. Er sagte den Dienern, sie sollten dem Küchenmeister etwas von dem, was in den Krügen war, zu kosten geben. Das taten sie. Augenblicklich kam der aus der Küche gerannt und rief: »Was für einen herrlichen Wein habt ihr mir gebracht.« Silbermond blickte zum Abendhimmel hinauf. Da strahlte nach langen Jahren zum ersten Male wieder der weiße Stern hell und klar. Silbermond schaute auf den Mann, dem sogar das Wasser gehorcht hatte und zu Wein geworden war. Er wusste mit einem Male ganz sicher, dass er am Ziel angekommen war. Er jubelte auf und rief: »Der, der die Sterne lenkt, der hat mich nicht in die Irre geführt.« Er schlich sich zu dem neuen König, berührte ganz heimlich sein Gewand, beugte seine Knie und huldigte ihm. Da erfüllte ihn eine große Freude ganz und gar, und er rief aus: »Meine Augen haben das Heil geschaut!«

Willi Fährmann: Folget dem Stern.
München: OMNIBUS Taschenbuch 2004

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