Die Sprache der Bäume

»Und hier die Hausaufgabe in Deutsch«, sagt Herr Lux, der Lehrer in der Klasse 4c. »Für morgen schreibt jeder eine Seite über ein Thema, das wichtig und interessant ist. Ihr dürft euch die Überschrift selber heraussuchen. Vielleicht findet jeder von euch ein anderes Thema.«

Ralf weiß gleich, was sein Thema ist. Zu Hause schreibt er:

Der Wald stirbt aus.

Tag für Tag sterben Bäume. Sie sind durch Gifte bedroht. Erst fallen die Blätter ab. Und dann sogar die Äste, manchmal auch alle Äste. Die Giftstoffe werden mit dem Rauch der Fabriken in die Luft gepustet. Die Auspuffgase der Autos vergiften die Luft ebenfalls. Dann wird das Gift mit dem Regen auf die Erde gedrückt.

 

Am nächsten Morgen, in der Deutschstunde, muss nacheinander jeder seine Überschrift nennen. Als alle drangekommen sind, sagt Herr Lux: »Nun hat tatsächlich jeder ein anderes Thema gewählt. Drei davon sollten wir uns anhören. Welche drei schlagt ihr vor?«

Die Gruppen an den Tischen flüstern miteinander. Die Gruppensprecher melden sich und geben das ausgewählte Thema an. Zweimal gibt es eine Abstimmung, dann ist es entschieden, und die Kinder hören

1., was Katja von der Geburt ihres Brüderchens berichtet. 2., was sich Frank zu dem Thema vorstellt »Wenn es ein Kinderfernsehen gäbe«, und

3., wie Jochen »Gerechtere Zensuren in der Schule« erreichen will.

Ralf ist ein bisschen traurig, weil sein Thema nicht gewählt worden ist. Er hätte gern mit anderen über das Waldsterben gesprochen.

Auf dem Heimweg nach der Schule rennt Claudia hinter Ralf her: »Geh nicht so schnell, ich will dir etwas sagen!«

Ralf wartet und sagt: »Schade, dass du mit deinem Thema heute nicht drangekommen bist. Es hätte mich interessiert.«

Claudia antwortet: »Mir geht es mit deinem Thema genauso. Ich glaube nämlich, dass ich eine Antwort auf deine Frage habe.«

»Welche Frage?«

»Na, wo das Waldsterben hinführt.«

»Ach ja«, sagt Ralf, »jetzt sehe ich, was du meinst. Dein Thema heißt ja >Meine Tante redet mit den Bäumen<. Haben ihr die Bäume etwas über das Waldsterben gesagt?«

»Ja, tatsächlich«, antwortet Claudia. »Meine Tante sagt, die Bäume sind traurig, aber sie sind nicht wütend auf die Menschen. Die Bäume wissen auch, dass das Leben in anderen Formen weitergehen wird, wenn die tot sind.«

Ralf weiß nicht, was er Claudia darauf antworten soll. Er merkt, dass das wichtig ist, was Claudias Tante berichtet, aber er zweifelt daran, dass sie es von den Bäumen selbst hat. Wie soll ein Baum denn reden können?

Am nächsten Morgen, als die große Pause beginnt und die Kinder die Treppe hinunterrennen, fasst Ralf Claudia am Ellenbogen: »Sag mir, wie soll ein Baum denn reden können? Bäume haben keinen Mund und keine Stimmbänder, und wenn sie rauschen oder knacken, dann ist es der Wind, der die Geräusche macht.«

»Kommst du mit in die Mädchenecke?« fragt Claudia. »Da kann man besser reden.«

Ralf weiß, dass ihn Dieter und Frank nachher vielleicht damit aufziehen werden, dass er mit Claudia in der Mädchenecke redet, statt auf dem Schulhof mit den Jungen herumzurennen. Aber er ist auf Claudias Antwort so gespannt, dass er mit ihr geht.

»Ich kann dir nur sagen, was mir meine Tante darüber erzählt hat. Also, es ist natürlich nicht so, dass die Bäume so reden wie du und ich. Aber es gibt etwas, das von den Bäumen kommt, und man kann es fühlen, wenn man vor den Bäumen Respekt hat.«

»Hast du selber schon einmal etwas gefühlt, das von einem Baum gekommen ist?« fragt Ralf.

»Ich weiß nicht«, antwortet Claudia. »Man braucht lange Zeit die Bäume zu verstehen. Aber einmal habe ich im Wald die Rinde eines Baumes gestreichelt, und es war ein gutes Gefühl.«

»Aber das ist doch keine Sprache!« ruft Ralf.

»Eine Sprache nicht«, sagt Claudia, »aber ein Verstehen.«

Helmut Schreier

 

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