Der grüne Omnibus

Anlässlich des Internationalen Tages des Gedenkens
an die Opfer des Holocaust

Der grüne Omnibus

Theo Stemmler

Die Tage wurden kürzer, und obwohl die Mittagstemperaturen in jenem warmen September 1944 manchmal noch 25 Grad erreichten, gingen die Leute aus Waldau nicht mehr zum Dorfweiher, um dort zu baden. Die Erwachsenen brachten die Ernte ein, die Kinder gingen vormittags zur Schule und waren nachmittags mit Hausaufgaben beschäftigt — oder mit dem Einkaufen von Dingen, die ihnen ihre Mütter auf Zetteln notiert hatten.

Karl nahm sich für den Heimweg vom Fleischer viel Zeit. Er genoß die Freiheit vor dem erneuten Beginn der häuslichen Verwahrung. Trotzig ließ er das Einkaufsnetz, in dem ein Pfund Schweineleber schwappte, über die staubige Straße schleifen, verscheuchte einige Hühner, die ihm in die Quere kamen, und trat mit seinen genagelten Schuhen nach jedem erreichbaren Stein, dass Funken sprühten.

Gelegentlich blieb er stehen und wartete eine Weile, bis sich genügend Speichel in seinem Mund gesammelt hatte. Dann nahm er breitbeinig Aufstellung und ließ den schaumigen Riesentropfen in den Staub fallen. Der beim Aufschlag entstehende Knall bestätigte ihm zu seiner Freude immer wieder das Verbotswidrige seines Tuns. Spucken gehört sich nicht, und nimm gefälligst die Hand aus der Hosentasche.

Sein Hunger auf Süßigkeiten und das Bestreben, die Heimkehr hinauszuzögern, trieben Karl in den Kolonialwarenladen des Dorfes. Bevor er die Straße überqueren konnte, musste er einen Omnibus vorbeifahren lassen, der mit hoher Geschwindigkeit durch Waldau donnerte und das ganze Dorf in eine gelbbraune Staubwolke hüllte.

Im Laden standen vier Frauen um Lebensmittel an. Karl wartete, bis er an der Reihe war, legte sein Zehnpfennigstück auf die Theke und sagte:

»Eine Waffel, bitte.«

»Jawohl junger Mann«, sagte die Verkäuferin, »eine Waffel für Sie«, holte eine mit brauner Masse gefüllte Waffel aus der Schachtel hinter ihr und reichte sie ihm. Karl nahm die Waffel wortlos entgegen und verließ ohne Gruß den Laden.

Er war beleidigt. Warum reden uns die Erwachsenen nicht so an, wie es sich gehört — oder sparen sich überhaupt die Anrede? Die Alte kannte ihn und hatte ihn mit seinem Vornamen anreden können. Er nahm sich vor, sie beim nächsten Einkauf »junge Frau« zu nennen — trotz der Gefahr, von ihr geohrfeigt zu werden.

Draußen biss er gierig in die Waffel, die ihm besonders gut schmeckte, weil seine Mutter immer behauptete, die mit klebriger Zuckermasse gefüllten Waffeln schadeten den Zähnen. Karl behielt sich vor, selbst über den Zerfall seiner Zähne zu entscheiden.

Als er sich dem Haus näherte, in dem er, seine Mutter und seine Großmutter wohnten, sah er davor einen Omnibus stehen. Dieser war von einer Menschenmenge umringt, die sich hauptsächlich aus älteren Dorfbewohnern und Kindern zusammensetzte.

Eine Reifenpanne hatte den Omnibus mitten im Dorf zum Halten gezwungen und in eine leichte Schräglage nach links gebracht. Er war dunkelgrün gestrichen, und niemand konnte hinein- oder herausschauen, da man seine Fenster mit milchiger Farbe zugepinselt hatte.

Dass nur fünf Fahrgäste ausgestiegen waren, kam Karl seltsam vor. Wahrscheinlich saßen noch einige im Innern des Wagens, der Platz für vierzig oder fünfzig Personen bot.

Die fünf hatten kahlgeschorene Köpfe, waren klapperdürr und trugen alle die gleiche breitgestreifte Kleidung. Karl drängte sich durch die Menge und sah, dass die fünf Männer versuchten, das linke Hinterrad abzumontieren, um es gegen das Reserverad auszutauschen.

Sie wurden von drei Schwarzuniformierten, die mit Maschinenpistolen bewaffnet waren, zur Eile angetrieben. Das Brüllen der Wächter nützte nicht viel. Die Radmuttern waren festgerostet und konnten von den ohnehin kraftlosen Häftlingen nur mit großer Mühe gelöst werden.

Dies nahm Zeit in Anspruch, die den Schwarzen kostbarer schien als den von ihnen Bewachten. Karl hatte den Eindruck, dass die Häftlinge die Arbeit absichtlich langsam ausführten, um ihre Heimkehr hinauszuzögern. Diese Absicht blieb den Wächtern nicht verborgen und ihr Schreien wurde drohender.

Die Leute, die dies alles beobachteten, gafften nicht mit jener schlichten Neugier, die sich Sensationelles erhofft und charakteristisch ist für herbeieilende Zuschauer nach einem Unglücksfall. Die Waldauer schauten vielmehr mit Entsetzen auf die Jammergestalten, die im Staub vor ihren Bewachern krochen und ungelenk mit Schraubenschlüsseln und Hammer hantierten.

Die Männer und Frauen und Kinder waren entsetzt, weil sie solche kaum schattenwerfenden Menschen noch nie zu Gesicht bekommen hatten. Die Insassen des Großwaldauer Gefängnisses, die öfter bei der Ernte aushelfen mussten, sahen anders aus und waren im allgemeinen wohlgenährt. Und auch die polnischen Feldarbeiter auf den Bauernhöfen hatten, obwohl sie ja eigentlich ebenfalls Gefangene waren, äußerlich keinerlei Ähnlichkeit mit diesen Elenden auf der Dorfstraße von Waldau.

Die Menge blieb stumm, solange der Omnibus vor ihr stand. Die Menschen schwiegen, weil ihnen der Anblick dieser Kreaturen die Sprache raubte und weil sie sich vor den Bewaffneten fürchteten, deren Befehle durch die Luft knallten. Die Szene, deren Zeugen sie zufällig dort fest, wo sie standen — in einer Bewegungslosigkeit, der manche einmal in Alpträumen zum Opfer gefallen waren.

Nur zweimal wurde die Starre gelöst. Zunächst war es Karls Großmutter, die sich durch den Ring der Zuschauer zu den fünfen drängte. Einem von ihnen gab sie ein Brot, das sie rasch aus ihrem Haus geholt hatte – einen dunkel glänzenden, langen, duftenden Brotlaib. Die Mutige war siebzig und hatte nichts mehr zu verlieren.

Der Beschenkte ergriff das Brot, dankte stumm, indem er seinen Kopf beugte, und umklammerte das Brot mit beiden Händen, bis einer der Bewacher mit drohend leiser Stimme befahl: »Zurückgeben – aber dalli!«

Er brachte seine Maschinenpistole in Anschlag und nicht nur die fünf vergaßen einen Augenblick das Atmen.

Der Häftling gehorchte sofort und legte das Brot dem vor ihm stehenden Karl auf dessen verschränkte Arme.

»Woher kommen Sie?« fragte Karl den Häftling.

Der starrte ihn an und antwortete nicht.

Und nun kam ein zweites Mal Bewegung in die Menge. Bevor Karl nochmals fragen und größeres Unheil anrichten konnte, zog ihn seine Mutter, die er vorher nicht unter den Umstehenden bemerkt hatte, nach hinten und zerrte den heftig Widerstand Leistenden ins Haus.

Karl war wütend. Er sah sich um die Antwort auf seine Frage gebracht. Die wurde ihm von seiner Mutter gegeben, nachdem sie in ihrer Wohnung angekommen waren. Doch der Name »Groß-Rosen«, den sie nannte, war ihm kein Begriff. »Das ist ein KZ«, sagte sie, »ganz in der Nähe.«

»Was ist ein KZ?« fragte Karl.

»In einem KZ sehen die Häftlinge so aus wie die unten aus dem Omnibus«, erklärte seine Mutter.

»Wann kommt man in ein KZ?«

»Wenn man Witze über Adolf Hitler oder den dicken Hermann Göring erzählt oder sagt, wir könnten den Krieg nicht gewinnen. Die Juden kommen auf jeden Fall ins KZ, auch wenn sie gar nichts sagen.«

»Was sind Juden?« fragte er.

»Juden tragen einen gelben Stern auf der Brust und heißen Levi, Kohn oder Salomon.«

Theo Stemmler

Karlhans Frank (Hrsg.): Menschen sind Menschen. Überall.
München, C. Bertelsmann Taschenbuch, 2002

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