Der einsame Weihnachtsmann

Der einsame Weihnachtsmann

Renate Riebschläger

Noch drei Tage bis Heiligabend und alle Miet-Weihnachtsmänner sind ausgebucht. Auch Nachbarn, Freunde und Verwandte feiern selbst und haben keine Zeit oder sind unserer Enkelin schon zu vertraut.

Doch für die kleine fünfjährige Hanna muss unbedingt ein Mann mit rotem Mantel und weißem Bart aufgetrieben werden.

Hanna glaubt noch ganz fest an den Weihnachtsmann und träumt seit Tagen von ihm. Ohne seine Anwesenheit würde ihre heile Weihnachtsmannwelt ins Wanken geraten.

Unsere letzte Hoffnung ist unser Nachbar Willi.

Den hatten wir erst einmal ausgeklammert, weil er so gerne redet und kein Ende finden kann, auch nicht beim Nachhausegehen. Das kommt wahrscheinlich daher, weil Willi ganz alleine lebt und etwas einsam ist.

Als wir Willi fragen, sagt er sofort zu und scheint sich riesig über diese überraschende Weihnachtsmannrolle zu freuen.

Am Heiligabend klopft Willi, mit rotem Mantel und weißem Lockenvollbart verkleidet, wie verabredet lautstark an die Eingangstür von Hannas Elternhaus und zieht den mit Geschenken gefüllten, braunen Stoffsack hinter sich her.

Hanna hatte noch nie Angst vor dem Weihnachtsmann, aber als sie Weihnachtsmann Willi erblickt, weicht sie ein paar Schritte zurück, denn Willi ist ein gewaltiger Zwei-Zentner-Mann, mit einer Körpergröße von ein Meter neunzig und einer großväterlichen Stimme.

Doch all die schönen Geschenke können das Eis brechen. Der Weihnachtsmann ist überaus einfühlsam und erobert so Johannas Herz. Auch redet er wie immer wahnsinnig viel, und die Zeit saust nur so dahin.

Als wir Willi zu verstehen geben, dass er nun aber wirklich wieder weitermuss, um die vielen anderen Kinder zu beschenken, und wir jetzt auch in die Kirche gehen möchten, meint er «Dann komme ich gerne mit», und Hanna ist sofort einverstanden.

In der Kirche sitzt Hanna glückselig auf Willis dickem, warmem Schoß und wird von allen Kindern beneidet.

Ein Weihnachtsmann beim Heiligabend-Gottesdienst, das hat es ganz gewiss noch nicht gegeben.

Alle Weihnachtsmänner sind doch unterwegs, um die vielen Kinder zu beschenken.

So haben die anderen Kinder große Sorgen, dass der Weihnachtsmann ihnen nichts bringt, weil ja Hanna auf seinem Schoß sitzt.

Wieder im Hause ist der Weihnachtsmann noch immer bei uns. Er wird von Hanna zum gemeinsamen Fondue-Essen eingeladen, und Willi genießt die familiäre Atmosphäre mit Oma, Opa, Mama und Kind am wärmenden Kamin und festlich beleuchteten Tannenbaum.
Er geht und geht nicht. Hanna ist begeistert von ihm, und wir mögen ihn jetzt nicht mehr nach Hause bitten, wo er ja ganz alleine wäre.

Irgendwann wird Hanna müde und möchte vom Weihnachtsmann ins Bett gebracht werden.

Da lässt unser Nachbar Willi sich nicht lange bitten und trägt die Kleine ganz behutsam die Treppe hinauf und legt sie unter den Baldachin von ihrem rosafarbenen Prinzessinnen-Bett.

Welches Kind hat das schon erlebt, vom Weihnachtsmann ins Bett gebracht zu werden.

Willi bleibt noch eine Weile, bis die Prinzessin überglücklich eingeschlafen ist.

Für Hanna und Willi wird alles ganz sicher noch lange nachklingen und in der Erinnerung ein unvergessenes Weihnachtsfest bleiben.

U. Richter; B. Mürmann (Hrsg.): Weihnachtsgeschichten am Kamin. 22.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2007

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