Der Leierkastenmann

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Allmählich wurde es Zeit für den kleinen Engel. Bis Weihnachten waren es nur noch zwei Tage und der große Stern zeigte ihm, dass er noch ein gutes Stück Weg vor sich hatte. Die Puppe hatte ihn ziemlich lange aufgehalten. Er musste sich beeilen. Doch der Esel trottete seinen Eselstrab. Hatschi konnte ihn antreiben, so viel er wollte, er ging nicht schneller.

»Dann dürfen wir nicht so oft stehen bleiben«, sagte Hatschi. »Stehen bleiben kostet Zeit.«

Aber als ein Mann mit einem komischen Kasten am Weg stand, hielt Hatschi den Esel doch an.

Der Kasten war bunt bemalt. Er stand auf einem kleinen Wägelchen und hatte eine Kurbel an der Seite. Der Mann drehte an der Kurbel, aber es kam kein Ton heraus. Nicht ein Piepser.

»Guten Tag«, sagte der kleine Engel zu dem Mann. »Was hast du in deinem Kasten?«

»Musik«, antwortete der Mann.

»Musik!«, piepste die Maus vom Kopf des kleinen Engels herunter. »Dass ich nicht lache!« Beinahe hätte sie ihr Weizenkorn verschluckt.

»Dann spiel uns mal was vor!«, verlangte Hatschi.

Der Mann drehte an der Kurbel, aber es blieb still.

»Ich kann nichts hören«, sagte der kleine Engel.

»Ich auch nicht«, gurrte Noahs Taube.

»Dann seid ihr eben unmusikalisch«, sagte der Mann.

»Ich – unmusikalisch!«, rief Hatschi entrüstet. »Ich bin ein kleiner Engel und alle Engel sind musikalisch. Das lernt jedes Kind schon in der Schule. Im großen Halleluja hatte ich immer eine Eins. Dein Kasten ist kaputt. Das kann doch jeder hören, dass da nichts rauskommt. Ich bin doch nicht taub.«

»Vielleicht doch«, sagte der Mann. »Wenn auch nur zeitweise.«

»Was heißt das?«, fragte Hatschi.

»Das möchte ich auch gern wissen«, sagte der Esel. »Was spielt denn dein Kasten? Walzer, Tango oder Rock ’n‘ Roll?«

»Weihnachtslieder«, sagte der Mann leise. »Nur Weihnachtslieder.«

»Aber die müssten wir doch hören«, rief der kleine Engel.

»Die werden doch jetzt überall gespielt.«

»Das ist es ja gerade«, murmelte der Mann traurig. »Ihr habt sie zu oft gehört. Es ist wie bei einem Wasserfall. Wenn man daneben wohnt, hört man sein Rauschen bald nicht mehr. Dann überhört man es.«

»Bei mir ist das nicht so!«, rief die Puppe, die bis dahin geschwiegen hatte. »Ich hab die ganze Zeit im Müll gelegen. Da hab ich mir nichts übergehört, weder >Alle Vögel sind schon da< noch die >Kleine Nachtmusik<.«

»Dann hättest du meine Musik ja hören müssen«, sagte der Leierkastenmann.

»Jawohl«, rief die Puppe. »Das hab ich auch.«

»Und warum hast du das nicht gleich gesagt?«

»Weil ihr so viel geredet habt, dass ich gar nicht zu Wort gekommen bin!«

»Ist ja schon gut«, besänftigte Hatschi sie. »Vielleicht bist du jetzt wieder still, damit wir das Zuhören noch einmal versuchen können.«

Da klappte die Puppe ihren Mund zu und der Esel hielt den Atem an.

Die Maus und Noahs Taube legten die Köpfe schief, um besser hören zu können.

Es war Abend geworden. Der große Stern stand wie ein Wegweiser am Himmel und ein paar kleine blinkten um ihn herum.

Da drehte der Mann wieder an der Kurbel. Zuerst war es still. Dann kam ganz leise eine feine Melodie aus dem Leierkasten.

»Kling, Glöckchen, klingelingeling! Kling, Glöckchen, kling!«

»Jetzt hör ich’s!«, rief Hatschi fröhlich. »Ich bin doch nicht taub.«

Auch der Esel, die Puppe, Noahs Taube und die kleine Maus hörten die Musik.

Da spielte ihnen der Leierkastenmann noch viele Weihnachtslieder vor und alle freuten sich, dass sie das Zuhören noch nicht ganz verlernt hatten.

»Übermorgen hat das Christkind Geburtstag«, sagte der kleine Engel zum Schluss. »Du kommst doch auch? Wir haben noch keinen Musikanten und ein Fest ohne Musik ist doch kein richtiges Fest.«

»Das stimmt«, sagte der Mann. »Ich komme gern.«

»Auf Wiedersehen!«, rief Hatschi, und »Auf Wiedersehen«, »Auf Wiedersehen«, »Auf Wiedersehen«, »Auf Wiedersehen«, riefen der Esel, die Maus, Noahs Taube und die Puppe.

Dann zogen sie weiter, denn bis übermorgen waren es nur noch zwei Tage.

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