Bruder Jan

 Mein Bruder Jan ist Schwester. Eigentlich ist er Zivi. Er macht seinen Zivildienst und arbeitet in einem Krankenhaus wie eine Krankenschwester. Er bringt den Patienten das Essen, füttert die Schwerkranken, die nicht allein essen können, macht die Betten, wäscht die Kranken, gibt auch mal eine Spritze und >schwenkt die Nachttöpfe<, wie er sich ausdrückt.

Am liebsten unterhält er sich mit den Patienten. Die freuen sich natürlich, denn meistens haben die Schwestern dazu keine Zeit. Jan ist, glaube ich, sehr beliebt bei den Kranken und auch bei den Schwestern. Alle sagen Jan zu ihm, auch die Patienten. Eigentlich müssten sie ihn doch Bruder Jan nennen, denn die Schwestern heißen Schwester Brigitte, Schwester Helga oder Schwester Annemarie.

Jan sagt nie >Oma< und >du< zu den alten Patientinnen, sondern spricht sie mit ihrem Namen an und sagt> Sie<.

„Ich habe eine eigene liebe Oma“, sagt er, „und alte Leute muss man höflich behandeln, gerade wenn sie krank und hilfsbedürftig sind.“

Eine alte Frau möchte immer, dass er den Arm um sie legt, sie stützt und füttert. Eigentlich könnte sie noch allein essen, aber in seiner Gesellschaft macht es ihr mehr Spaß. Wenn er Zeit hat, hilft er ihr gern. Dann strahlt sie ihn an.

Eine andere Patientin, die manchmal ein bisschen wirr im Kopf ist, ruft immer laut nach ihm. „Jan, Jan!“, schallt es durch die Gänge. Überall auf der Station kann man das Rufen hören und alle ziehen Jan mit seiner Verehrerin auf.

Am Wochenende ist Jan zu Hause und erzählt von der alten Frau, die ihn immer ruft. Ich sage:„Vielleicht hat sie am Montag deinen Namen wieder vergessen.“

Aber am Montag hat die Kranke Jans Namen nicht vergessen und ruft weiter nach ihm.

Antje Burger

Karin Schupp (Hrsg.): 200 Kurze Geschichten.

Lahr: Kaufmann 1999

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