Zen Air – eine Weihnachtsgeschichte

Zen Air

Nein, nein, das hat nichts mit Zen-Buddhismus zu tun, ist auch keine neue Fluglinie, etwa zu den buddhistischen Klöstern in China oder Japan, wo neuerdings auch westliche Interessenten die Kunst der Kontemplation lernen wollen. Vielmehr ist ZEN AIR eine Weihnachtserfindung meiner damals sechsjährigen Schwester. Sie hatte nämlich die glorreiche Idee, dass wir eigentlich zusammen spielen könnten. Das war bei uns beiden eigentlich nicht üblich, denn bei fünf Jahren Altersunterschied (ich war elf) gehen die Interessen doch weit auseinander. Später, als ich an der Universität auch Vorlesungen über Kinder- und Jugendpsychologie hörte, erfuhr ich, dass gerade diese Zahl der Jahre die zwischenmenschliche Kommunikation am meisten blockiere.
Aber nun hatte meine Schwester vorgeschlagen, ich könnte ihr doch für ihren Kaufladen die Ware mit meiner elektrischen Eisenbahn liefern. Ja, das war wirklich eine tolle Idee; ich wäre darauf nicht gekommen. Und mit der Spur Null, die es heute leider nicht mehr gibt, war das auch kein Problem. Da hatte es in den Waggons genügend Stauraum.
«Gut», sagte ich, «aber was soll ich dir denn liefern?»
«Das schreibe ich dir auf.»
«Haha, du kannst doch noch gar nicht schreiben», erwiderte ich überheblich.
«Doch, du wirst schon sehen.»
Sie griff zu einem Blatt Papier und malte zu meinem großen Erstaunen in Großbuchstaben, die sie sich aus ihrem Bilderbuch, das ich ihr immer vorlesen musste, angeeignet hatte, einen «Bestellzettel». Der sah etwa so aus:

ZEN AIR
FINF FUND MEL
AIN SAG EBFL
TSWAI GUGEN TSUGR
TREI KIHLO GARDOFL…

«Was soll denn das heißen», fragte ich völlig verdutzt.
«Ja, kannst du denn nicht lesen? Komm, ich lese es dir vor.»
Und nun las sie laut Buchstabe für Buchstabe langsam, aber völlig richtig ihre «Bestellung», die ich dann auch perfekt verstand. Den Bestellzettel legte sie in einen meiner Güterwagen. Ich ließ die Bahn ein paar Runden drehen, am Bahnhof halten und entnahm die Bestellung. Sie war im Großen und Ganzen leicht auszuführen, denn Mehl, Zucker(hut) und Kartoffel hatte sie ja in ihrem Kaufladen vorrätig und mir vorher in einer Schachtel verschmitzt zugeschoben. Einen Apfel entnahm ich der Schale auf unserem Esstisch und legte ihn in den Langholz wagen, der damit ausgefüllt war, aber wo sollte ich zehn Eier herbringen? Was sah – in Miniformat – so ähnlich aus? Ah ja: Reiskörner! Schnell lief ich in die Küche und bat meine Mutter um zehn Reiskörner.
«Wozu brauchst du denn Reiskörner?»
«Zum Spielen!»
«Mit Esswaren spielt man nicht! Außerdem habe ich jetzt keine Zeit; du siehst doch, dass ich alle Hände voll zu tun habe.»
«Aber ich bringe sie nachher auch wieder zurück!»
«Na, gut! Nimm dir die Körner aus dem Einweck-Glas.»
Glücklich, die ganze «Bestellung» nun ausführen zu können, kehrte ich in unser Spielzimmer zurück.
Meiner Schwester hatte das Feilschen um die ZEN AIR offensichtlich zu lange gedauert. Ein Kindertelefon besaßen wir nicht. Aber sie wusste sich zu helfen. Sie ließ ihre Ladenkasse klingeln, legte ihre Hand ans Ohr und sagte:
«Herr Kaufmann, wann kommen denn endlich meine bestellten Sachen?»
Eine Ladenkasse, die ich als Telefonersatz klingeln lassen konnte, besaß ich zwar nicht, aber ich hatte ja ein Läutwerk, mit dem ich sonst den herannahenden Zug ankündigte. Also drehte ich an der Kurbel:
«Einen Moment, ich werde mal nachsehen, ob schon etwas im Bahnhof steht. Ich rufe Sie dann zurück.»
«Hallo, hallo, Frau Schmied, Ihre Sachen sind angekommen. Sie können sie abholen.»
In diesem Moment betrat meine Mutter, die bisher in der Küche das Weihnachtsmahl vorbereitet hatte, das Zimmer und konnte nicht genug staunen, wie friedlich wir miteinander spielten.
«Ja, das ist ja was ganz Neues», meinte sie erfreut. «Was spielt ihr denn?»
«Eisenbahn und Kaufladen», sagten wir wie aus einem Mund.
«Und wie geht das?»
Ich zeigte ihr den «Bestellzettel» meiner Schwester.
«Wie, was? Das verstehe ich nicht.»
«Du musst es laut lesen», half ich Mutter auf die Sprünge. Da brach sie in helles Gelächter aus.
«Ja, das ist ja prima; ich wusste gar nicht, dass du schon schreiben kannst», lobte sie meine Schwester.
«Ein bisschen halt», sagte sie etwas kleinlaut, denn das Lachen unserer Mutter hatte sie schon ein wenig aus der Fassung gebracht.
«Das ist schon in Ordnung. Ostern kommst du ja in die Schule und dann lernst du es richtig. Aber weil ihr so schon miteinander spielt, habe ich auch eine Idee. Heute Nachmittag backen und kochen wir was aus den ZEN AIR und den anderen guten Sachen, die der «Kaufmann» dir geliefert hat, in der Puppenküche.»
«Richtig backen und kochen?», fragten wir etwas ungläubig, denn bis jetzt hatte meine Schwester nur immer so getan, als würde sie in dieser Küche etwas backen oder kochen.
«Ja, richtig backen und kochen, das geht nämlich mit dem kleinen Herd ganz gut.»
Wir konnten den Nachmittag kaum erwarten. Und dann ging es los. Mutter schälte den von mir gelieferten «EBFL» und schnitt ihn in kleine Stücke. Aus dem MEL und einem der ZEN AIR bereitete sie einen Teig, und nun wurde der Herd, den unser Großvater, der von Beruf Schlosser war, einst selbst für unsere Mutter und deren Schwester hergestellt hatte, mit Esbit angefeuert. Der EBFL kam in einen kleinen Topf, in den noch aus der GUG (süddeutsch für «Tüte») etwas TSUGR hinzugefügt wurde, um den entstehenden Apfelbrei zu süßen. Auf einer anderen Herdplatte füllte meine Schwester vorsichtig etwas Teig in ein kleines Pfännchen, in dem zu unserem Erstaunen tatsächlich bald kleine Pfannkuchen brutzelten.
Diese Köstlichkeiten wurden in die Puppenstube, die ebenfalls Großvater – wie auch die Puppenküche – einst selbst gebastelt hatte, gebracht, die kleinen Puppen in ihre Stühlchen gesetzt und dann aßen, ach was, schmausten wir selbst mit größtem Vergnügen und Hochgenuss. So gut hatten uns Pfannkuchen und Apfelbrei noch nie geschmeckt!
Wenn wir uns in späteren Jahren nur gelegentlich an Weihnachten trafen, weil wir – beruflich bedingt – weit auseinander wohnten, und ich an Weihnachten als Pfarrer natürlich meist Dienst hatte, brauchte ich nur meiner Schwester das Code-Wort «ZEN AIR» zuzuflüstern, und schon schmeckten wir das einstige Puppenküchegericht auf der Zunge, und der ganze Weihnachtszauber von ZEN AIR war wieder da.

Kurt Dittert

Ursula Richter; Barbara Mürmann: Weihnachtsgeschichten am Kamin 22.
Reinbek bei Hamburg: Rororo, 2007

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