Flora und die Geige

Flora und die Geige

Heute Vormittag ist Flora am Bahnhof angekommen. Am großen Bahnhof der großen Stadt. Gestern hat sie den ganzen Tag den langen Weg zum Bahnhof zu Fuß gemacht. Sie ist die ganze Nacht gereist. Gereist oder eher geflohen, weil es Krieg in ihrem Lande gibt.

Eine große Explosion, das Haus brach in Feuer aus und keiner war dabei, der den Brandherd löschte.

Also, schnell! Flora hat ein paar Kleidungsstücke in ihren Rucksack gestopft, dann nahm sie ihren Teddybär und, vor allem, ihren Geigenkoffer mit der Geige.

Und zusammen mit ihren Eltern flüchtete sie aus dem Dorf.

Als sie aus dem Zug ausstieg, ist sie in einem anderen Land. Die Leute scheinen es eilig zu haben und sie reden eine komische Sprache. Flora schaut wie sie Handbewegungen ausführen, sie versteht ihre Worte aber nicht.

Sie fühlt sich verloren…

Zum Glück haben sehr freundliche Leute den Eltern eine Wohnung zur Verfügung gestellt. Und in der Schule hat sie auch einen Platz in der Klasse der Jüngeren. Sie wird Französisch lernen können, die komische Sprache, die sie am Bahnhof gehört hat.

Ihr Vater begleitet sie am ersten Tag.

Sobald sie die anderen Kinder erblicken, machen sie sich lustig über sie.

»Hast du gesehen? Ihr Haar ist orange!«

»Und so viele Flecken am Gesicht hat sie!«

»Sie ist nicht von hier! Woher kommst denn du?«

»Schau ihre Brille an! Eh, hast du sie vielleicht deiner Oma geklaut?«

Alle haben Spass.

Alle, außer Flora.

Heute hat Flora ihre Geige mitgebracht.

Nach der Schule hat sie eine Stunde an der Musikschule. Als die Kinder ihren Geigenkoffer sehen, spotten sie wieder.

»Und was ist das? Ihr Maschinengewehrkoffer?«

»Nein, es ist ihr Marktkorb. Sie isst nur Birnen.«

»Achtung, sie hat ein Krokodil drinnen versteckt!«

Alle Kinder lachen. Alle, außer Flora.

Sie wird sogar trauriger und trauriger, aber keiner merkt es. Keiner, außer Christian. Am Ende der Schule spricht er sie an:

»Gehst du nach Hause, Florica?«

»Nein. Ich gehe Schule Musik

»Wozu?« fragt Christian.

»Geige spielen…«

»Willst du, dass ich mitgehe?«

Flora lächelt ihm an und nickt.

In dieser Schule hört man überall Musik. Christian erkennt den Klang eines Klavieres, einer Trompete und einer Flöte.

Der Lehrer ist sehr nett. Er erlaubt Christian, die Stunde zuzusehen, wenn er leise ist.

Flora spielt sehr gut, sowohl allein als auch im Duo mit ihrem Lehrer.

Christian hört ihr reglos zu.

Eines Tages zeichneten die Kinder in der Schule, als plötzlich, große schwarze Wolken über den Himmel kommen. Sturmwolken, die unheimlich sind. Die Blitze fallen aus allen Richtungen hinunter, der Donner brüllt und knallt wie eine Peitsche. Krak! Kein Licht: ein Blitz hat den Strom unterbrochen.

»Ich hole Kerzen« sagt die Lehrerin. »Bleibt ruhig!«

Die Kinder haben sehr viel Angst. Sie schreien und verstecken sich weinend unter den Tischen.

Flora würde sie gern beruhigen. Aber wie?

Plötzlich hat sie eine Idee. Eine sehr gute Idee sogar. Sehr langsam nimmt sie die Geige aus ihren Koffer, den Bogen, und…

… eins… dann zwei… dann drei Töne steigen in die Dunkelheit des Klassenzimmers und schaukeln leicht in der Luft. Es klingt nach einem Wiegenlied. Eine ganze Reihe von Noten, ergeben dann einen Tanz. Sie spielt aber schnell, die Flora! Sie spielt ein Lied ihres Landes. Es ist fröhlich, es ist traurig, beides zugleich. Und dank ihres Liedes haben die Kinder den Sturm vergessen.

Ach, wie Schade! Der Strom ist zurück…

Die Kinder klatschen.

»Danke, Flora. Sehr gut!« sagt die Lehrerin. Und dann fügt sie hinzu: »Für morgen habt ihr keine Hausaufgaben aber ihr werdet alle ein schönes Gedicht schreiben oder einen Zeichnen machen um euch bei Flora zu bedanken.«

»Yuupiiiiiiii!« freuen sich die Kinder. Jetzt wollen alle mit Flora befreundet sein. Sie hat aber nur einen einzigen und echten Freund: Christian.

Er geht jede Woche mit in ihre Geigenstunde.

Der Lehrer hat Christian eine schöne Blockflöte gegeben.

»Versuch’ mal darauf zu spielen!« Christian hat es versucht und er hat den Klang sehr gemocht.

Seitdem spielt er jeden Tag. Er hat es sogar sehr schnell geschafft, mit Flora zusammen zu spielen. Geige und Flöte, Flöte und Geige, es ist sehr lustig und auch ein bisschen verzaubernd…

»Was wäre, wenn ihr ein kleines Konzert in euren Schule spielen würdet?« schlägt der Lehrer vor.

»Gute Idee!« schreit Flora. »Und dann spielen wir auch in den Krankenhäusern für die kranken Kinder. In meinem Lande macht man das oft. Die Musik hilft zu heilen und Sorgen zu überstehen!«

»Welche Stücke willst du denn spielen, Christian?«

»Eh… die am leichtesten? Aber nein, schwerer auch! Ich werde jeden Tag üben und Fortschritte machen!«

Die Kinder bereiten zehn Stücke vor und mit Hilfe des Lehrers malen sie ein schönes Plakat. Die ganze Schule kommt, sie anzuhören. Es ist ein Riesenerfolg, ein wunderbares Konzert! Am Ende haben sich alle Kinder dazu entschlossen ein Musikinstrument zu lernen.

Und dann?

Flora und Christian haben weiter zusammengespielt, überall und sehr oft.

Nur zum Spaß!

Gerda Muller: Quand Florica prend son violon.
Paris, 2001, L’école des loisirs

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