Die große Wörterfabrik

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Es gibt ein Land, in dem die Menschen fast gar nicht reden.

Das ist das Land der großen Wörterfabrik.

In diesem sonderbaren Land muss man die Wörter kaufen und sie schlucken, um sie aussprechen zu können.

Die große Wörterfabrik arbeitet Tag und Nacht. Die Wörter, die aus den Maschinen herauskommen, sind ebenso unterschiedlich wie die Sprachen.

Es gibt Wörter, die sind wertvoller als andere. Man sagt sie nicht oft. Eigentlich nur, wenn man sehr reich ist. Denn im Land der großen Wörterfabrik ist sprechen teuer.

Diejenigen, die kein Geld haben, durchsuchen manchmal die Mülleimer. Aber die weggeworfenen Wörter sind meist wertlos: Man findet nur Hundekacka und Hasenpipi.

Im Frühling, beim Schlussverkauf kann man sich Wörter im Sonderangebot kaufen.

Man kommt bepackt mit Taschen voller günstiger Wörter nach Hause. Allerdings sind diese Wörter oft unnütz: Was macht man schon mit einem BAUCHREDNER oder einer ZIERHASEL?

An manchen Tagen fliegen Wörter durch die Luft. Die Kinder fangen sie dann mit ihren Schmetterlingsnetzen ein. Sie sind stolz, wenn sie ihren Eltern beim Abendessen einige Wörter sagen können.

Heute hat Paul drei Wörter in seinem Netz gefangen. Aber er sagt sie nicht gleich, denn er möchte sie aufheben. Für jemand ganz Besonderes.

Morgen ist Maries Geburtstag. Paul hat sie furchtbar lieb. Das würde er ihr gerne sagen. Doch dafür hat er nicht genug Geld in seiner Spardose.

Also wird er ihr die drei Wörter schenken, die er gefunden hat: „Kirsche, Staub, Stuhl“.

Marie wohnt im Nachbarhaus. Paul klingelt an ihrer Tür.

Er kann nicht sagen: „Hallo, wie geht‘s?“, weil er diese Wörter nicht hat.

Stattdessen lächelt er. Marie trägt ein kirschrotes Kleid. Sie lächelt auch.

Plötzlich sieht Paul Oskar hinter ihr.

Oskar ist Pauls schlimmster Feind. Seine Eltern sind sehr reich. Aber das ist nicht der Grund, weshalb Paul ihn nicht leiden kann.

Oskar lächelt nicht.

Er spricht. Zu Marie.

ICH LIEBE DICH VON GANZEM HERZEN, MEINE MARIE. EINES TAGES, DAS WEIß ICH, WERDEN WIR HEIRATEN.

„Das hat ein Vermögen gekostet!“, denkt Paul. Marie lächelt noch immer. Und Paul weiß nicht, wen sie eigentlich anlächelt.

In Oskars Augen blitzt so viel Selbstbewusstsein.

„Meine Wörter sind klitzeklein!“, denkt Paul.

Er holt tief Luft und denkt ganz fest an all die Liebe in seinem Herzen.

Und dann sagt er die Wörter, die er in seinem Netz gefangen hat.

Die Wörter fliegen zu Marie. Sie sind wie kostbare Kieselsteinchen.

Kirsche!                                   Staub!                                    Stuhl!

Marie lächelt nicht mehr. Sie blickt ihn an.

Weil sie keine Wörter hat.

Sie nähert sich ganz behutsam und gibt Paul einen sanften Kuss auf die Wange.

Paul hat noch ein einziges Wort, das er sagen kann.

Vor langer Zeit hat er es in einem Mülleimer gefunden, zwischen lauter Hundekacka und Hasenpipi.

Dieses Wort mag er sehr gerne.

Er hat es für einen ganz besonderen Tag aufgehoben.

Und dieser Tag ist jetzt da.

Er blickt Marie fest in die Augen und sagt:  Nochmal!

Agnès de Lestrade

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